Achtundsechziger im Spiegel eines deutschen Kulturk(r)ampfes - kein Schein ohne Schatten

I.

"In einem Freiheitsakt, in einem Freiheitskampf. Das sage ich, ohne achtundsechzig verfremden, überhöhen zu wollen - jede Revolution oder Revolte hat auch ihre Negativseiten, und das wird man bei allen großen historischen Ereignissen oder auch kleineren historischen Ereignissen sehen, es gibt den unbefleckten Freiheitskämpfer nur sehr selten, und es gibt die unbefleckte Freiheitsrevolution nur sehr selten. Und es gibt große Irrtümer, und es gibt auch die Verantwortung dafür. Dazu muß man und auch ich stehen, und das darf nicht mit der Gloriole weggedrückt werden und gesagt werden: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber das ist in der aktuellen Debatte alles nicht der Punkt, nur: Wir haben nicht so viele dieser Traditionen, daß man achtundsechzig vergessen könnte. Und es ist fast zu bedauern, daß die Debatte über achtundsechzig als einen Gründungsakt - da war irgendwo ein Gründungsakt, sonst würden wir nicht immer wieder darüber streiten - und so eng geführt wird. (...) Wenn man das alles versucht wegzudrücken, dann wird man am Ende zum Schlemihl ohne Schatten. Die heute Fünfunddreißigjährigen müssen sich fragen, ob sie eines Tages nicht wirklich ohne Schatten sein werden und ob man das wollen soll, ein Mensch ohne Schatten oder eine Demokratie ohne Schatten; denn wo Licht ist, fällt Schatten. Und wenn dieser Schatten weg ist, wenn man den versucht wegzunehmen, dann verliert man woanders. Mehr aber will ich jetzt nicht sagen."

Joschka Fischer in der FAZ v. 17.02.01

Alles hat seine zwei Seiten - meistens eine positive und eine negative; es gibt große und kleine Ereignisse - hingegen keine (das im Original auffindbare "selten" nehmen wir hier als nicht weiter ernst zu nehmende Konzession des Staatsmannes an den noch im katholischen Aberglauben verhafteten Teil seines Volkes) unbefleckten und vom Irrtum unberührten; ebenfalls gibt es kein Licht ohne Schatten - es sei denn, man ist statt demokratische Lichtgestalt fünfunddreißig, mithin in einem Alter, das Greisen als jugendlich gilt. Von nichts anderem nämlich als Vergreisung und Verblödung zeugt die sich altersabgeklärt gebende Rede, die außer abgestandene Volksweisheiten von sich und zum Besten zu geben "mehr aber jetzt nicht sagen will" und, wie sich auf den anderthalb Zeitungsseiten zeigt, die ein "Gespräch mit Joschka Fischer über Evolution und Revolution" und dem FAZ-Herausgeber Schirrmacher in dessen Zeitung füllen, auch nicht sagen kann. (Das prägnante Statement Fischers zur Evolution in diesem Gespräch "auf intellektuell hohem Niveau", wie gleich zwei Redakteure im "Mannheimer Morgen" ohne auch nur einen Funken von Ironie befanden, sei dem Neugierigen an dieser Stelle nicht vorenthalten: "Darwin kenne ich weniger gut" [als Marx].) Hätte der von der Speck- zur Dumpfbacke herunter- und solcherart zu Volkes Liebling Emporgekommene doch vorher schon geschwiegen, statt im feinsinnigen Frankfurter Feuilleton mit dem Schlemihl zu schleimen.

Unterstellt man - und der normale Menschenverstand, dauernder Sinnstifter im an sich Sinnlosen, der er ist, produziert immer Unter- oder Vorstellungen -, dass Fischer mit seinem und der Demokratie Schatten den "Freiheitsakt" von anno 1968 meint, so scheint die Warnung an die Fünfunddreißigjährigen darin zu bestehen, den "Freiheitskampf" nicht zu verabsäumen, da sie ansonsten keinen "Schatten" haben werden. Fischer fragt sich und uns, ob sie das wirklich wollen können sollen, und sich der ihnen drohenden Gefahr, zum Schlemihl zu werden, bewusst sind. Wir müssen an dieser Stelle in dem Wissen darum, dass Fischers Volk kein Anlass zur Panik zu gering ist und eine verheerende Tradition darin besitzt, völlig blödsinnige Geschichten zu glauben, wenn in ihnen nur irgendwie mit irgendwas gedroht wird, intervenieren und klarstellen: Peter Schlemihls beklagte Schattenlosigkeit gründete nicht in Unterlassung - um Schlemihls willen keine weitere deutsche Revolution! -, sondern im frevelhaften Handeln. Er hatte seinen Schatten beim Teufel für das Versprechen unbegrenzten Wohlstandes eingetauscht. Einen "Schatten", seinerzeit nannte es Fischer "Revolutionärer Kampf", zum Gegenstand eines Paktes gemacht und ihn damit so gründlich verloren zu haben, dass selbst die Fähigkeit verschwunden ist, damit einstmals verbundene Hoffnungen und Wünsche auch nur zu erinnern, wird man aber nur wenigen begründeter als Fischer vorwerfen können. Dass er dennoch nicht der Schlemihl ist, vor dem er diejenigen völlig zu Unrecht warnt, welche er heute für jung befindet, gründet nicht in der mangelnden Übereinstimmung seiner und "Peter Schlemihls wundersame(r) Geschichte", sondern einzig in dem Umstand, dass sich in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, im Unterschied zur anfänglichen vor 200 Jahren, der Gedanke, ein Wohlstand verheißender Pakt könnte des Teufels sein, nicht mehr auffinden lässt. Joschka Fischer befindet sich zwar gleich Peter Schlemihl auf immer währender Wanderschaft, nur ist diese nicht mehr Folge gesellschaftlicher Ächtung, sondern einer Anerkennung, welche sich zeigt in der Vergabe des Postens des Ministers fürs Äußer(st)e.
Einer, der sich von Fischers Rede angesprochen, genauer: angemacht sieht, antwortet ihm zwei Tage später auf der speziell dem Meinen gewidmeten Seite der "Kinder-FAZ", wie Hermann L. Gremliza die TAZ zu nennen pflegt, unter der Überschrift "Mit 20 an Karl Marx glauben?" Michael Ortmanns, 24-jähriger Pressesprecher der Grünen in Nordrhein-Westfalen, verwahrt sich dagegen , dass just jene (Fischer, Schlauch et al.) ihm mangelnde Subversivität im jugendlichen Alter vorwerfen, die in einem wie ihm "ihre größte innerparteiliche Stütze" haben: "Mit 17 habe ich mir im Geschichtsleistungskurs gedacht, dass die Umsetzung der Theorien von Marx allenfalls eine belächelnswerte Utopie ist. Mit 20 bin ich den Grünen beigetreten; ich wollte Politik mit dem und nicht gegen das politische System machen (...) Mit 22 habe ich entschieden, (Partei-)Politik in den beruflichen Mittelpunkt zu stellen. (...) Vielleicht sind wir tatsächlich die Generation der politischen Mainstream-Biografien - im allerbesten Sinne: Denn man muss nicht mit 20 an den Sozialismus glauben, um als Fraktionsvorsitzender 30 Jahre später durchaus vernünftige, aber eben doch marktwirtschaftliche Mittelstandspolitik zu betreiben."

Jemand wie Michael O., der schon mit 17 denkt, also ist - statt mit 20 zu glauben und ergo mit 50 erst zu werden -, braucht vielleicht noch dies und das, z.B. einen Strick, einen Sarg und eine Grabstelle, keinesfalls aber Ratschläge von einem, der mit 50 gerade mal dort angekommen ist, wo er mit 17 schon war, und dem er deshalb schon in jungen Jahren Stütze sein muss. (Grüne) - die Partei steht bei Herrn O. in Klammern - Zustände, die in der FAZ bereits zwei Wochen vorher treffend kommentiert wurden: "Die spinnen, die Fundis! oder: Wir müssen raus aus der Pubertät. Das war Fischers Parole und die Kapitulation der Grünen."

 

II.

"Daß das nicht solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann"

Franz Josef Degenhardt, 1969

"Es war einmal eine milde Zeit. Da erzählten sich Freunde von gestern wie Feinde von gestern Geschichten vom Krieg. Der war nicht, wie der große Krieg davor, verloren worden. Er war im Sande verlaufen, die Bilanz belief sich nicht auf fünfzig Millionen, sondern auf etwa hundert Tote. Nachsichtig geworden, klopften sich die Kombattanten auf die Schulter. Diejenigen, die diesen Staat einmal zerstören wollten, waren nun dankbar, daß sie erfolglos geblieben waren. Und die Angegriffenen von damals wollten nun nicht mehr bestreiten, daß die rebellischen Jahre das Ihre zum Gelingen der zuvor doch recht steifen Republik beigetragen haben." So Thomas Schmid über die unmittelbare Vergangenheit, der heutigen, vom "Kulturkampf" (A. Vollmer) gezeichneten Gegenwart.
Einer wie Schmid, dessen langer Lauf, gestartet in den Siebzigern als Kampfgenosse des heutigen Marathonmannes Fischer, letztlich und im großen Unterschied zum kleinen Krieg nicht in den Sand, sondern in die Redaktionsräume der Frankfurter Allgemeinen führte, und der dort angekommen sich wiederfindet in einer wüsten Kontroverse über die Bedeutung ausgerechnet des Ortes, von dem aus er einstmals loslief, kann vermutlich gar nicht anders, als sich eine einmal gewesene "milde Zeit" zu halluzinieren.

Fischer und Schmid, hier prototypisch für eine ganze Spezies, belegen mitsamt ihrer famosen Biografien nur exemplarisch, dass unter den herrschenden Bedingungen die Leute mit zunehmenden Alter regelmäßig nicht klüger, sondern dümmer werden, und deshalb denkbar ungeeignet sind zur Auskunft über die Sache, welche sie in lange zurückliegenden besseren Tagen vertreten haben. Die Revolte, an der teilgenommen zu haben mit verschämten Stolz zugestanden wird, gerät ihnen zu einer Jugendsünde oder -torheit, welche sich aber vorzeigen lässt in einer Zeit, in der um ihren Lifestyle besorgte Menschen alles mögliche anstellen, um einem ebenso aufreibenden wie abstumpfenden Alltag zu entrinnen und noch etwas anderes als Öde und Langeweile zu erleben. Einem Moment, dem auch die spätpubertären Eifersuchtsattacken und infantilen Angebereien von Merz und Konsorten, die sich mit ihren biederen JU- und RCDS-Biografien unversehens im Hintertreffen wähnen, geschuldet sind. Einer Sache, die sich orientiert am marxschen "kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", lässt sich in der abgeschmackten Weise, Geschichten von damals zu erzählen, nicht beikommen. Verbundenheit zu ihr bekundet man in einer Situation, "in welcher niemand mehr fähig ist, sich auch nur vorzustellen, wie es war, als man schwierige Bücher wie Krimis verschlang" (Wolfgang Pohrt), durch die Kritik an eben den Verhältnissen, die umzustürzen einstweilen nicht möglich erscheint. Dass die Achtundsechziger und die sich ihr unmittelbar anschließenden Bewegungen über ein revolutionäres Moment verfügten, wird kenntlich weniger durch ihre ehemaligen Protagonisten als durch ihre Gegner. Deren Kampfkraft resultierte nicht aus der Lust auf ein anderes und besseres Leben, die man, wie jede Lust, verlieren kann, sondern aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Die Reaktion erweist der Revolte, indem sie sich gegen die Mär vom Gründungsakt der Republik durch eine peacige Blumenkinderbewegung verwehrt, die Ehre, welche ihr durch ihre ehemaligen Protagonisten verweigert wird, wenn diese die Bewegung in verkehrter Apologetik zu einer zum Zweck der Modernisierung zurechtlügen, die "das ihre zum Gelingen der Republik beigetragen habe." Dass diese Lüge auf die Evidenz des Scheins sich zu stützen vermag, verleiht ihr statt Wahrheit nur den Grad an Plausibilität, den sie braucht im Kampf der Ideologien. Es stimmt, das Gesicht der bundesdeutschen Gesellschaft im Jahre 2001 ist ein anderes als in den Sechzigern. Wäre es nicht so, bestünde Anlass zur Diskussion darüber, ob man noch in einer Gesellschaft lebt, über die Marx gelegentlich notierte: "Das Kapital treibt (...) seiner Tendenz nach ebenso sehr hinaus über nationale Schranken und Vorurteile wie über Naturvergötterung und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsame eingephählte Befriedigung vorhandner Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise. Es ist destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen." Wenn Ex-Achtundsechziger sich und anderen versuchen einzureden, es sei ihr Verdienst, wenn

so verweisen sie auf gesellschaftliche Fortschritte, die nicht geleugnet werden sollen. In gleicher Weise könnten sie sich aber auch zugute schreiben - um in der ihnen heute besser verständlichen Sprache des Buchhalters zu sprechen -, dass man heutzutage im Unterschied zu den Sechzigerjahren nicht mehr seinerzeit in der NSDAP gewesen sein muss, um zu gesellschaftlicher Macht und Einfluss zu gelangen. Dass in ihrer Bilanz die Debitoren, die aufzuführen hier der Platz nicht ist, fehlen und deshalb ihr Ergebnis einer schönen, bunten Republik einer auch nur oberflächlichen Kritik in keiner Weise standhält, sei nur am Rande vermerkt.

Für den Gründungsakt der Bundesrepublik, die ja weniger auf als vielmehr aus den Trümmern des nationalsozialistischen Deutschland entstand, zeichneten die prinzipiell Gleichen verantwortlich, die sie 20 Jahre später auch erfolgreich verteidigten. Dass sie der Mischung aus Dreistigkeit und Blödheit, mit der die damaligen Angreifer ihre Niederlage von einst heute zum erfolgreichen Unternehmen umbiegen, wenig entgegenzusetzen haben, bekundet keinen Mangel an Gerechtigkeit, sondern bildet ihr einziges Moment. Schön und gerecht nämlich ist beispielsweise, wenn ein mit ausgesprochenen Macht- und Interessenbewusstsein ausgestatteter FAZ-Herausgeber - die Rede ist vom Mannheimer Hugo Müller-Vogg -, unversehens in der Scheiße steht, die er für gewöhnlich in seinem Blatt zu verschütten pflegt.

Kritik an der 68er-Revolte setzt zuallererst voraus die Vergegenwärtigung des Gegenstandes, gegen den der Protest sich richtete. Diesen fasste Karl Marx, obwohl er den Nationalsozialismus sicherlich nicht vorausahnen konnte, seinerzeit so: "Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt."

 

Quelle: Rosa Luxemburg Gesellschaft e.V., Editorial, Sommersemester 2001

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