Grenzenlose Gerechtigkeit

"Infinite Justice" lautete der Codename, unter dem die USA nach den terroristischen Anschlägen in New York und Washington zunächst ihre Reaktionen planten. Nicht verwunderlich wäre hätten die Terroristen für ihre Anschläge einen ähnlichen Namen gewählt. Ideologie der Islamisten und der Ort ihrer Taten gingen jedenfalls damit konform. Affin ist auch der Kontrahenten manichäische Sicht auf die Welt, in der sie jeweils auf der Seite des Guten, Gerechten, Wahren und im heiligen Krieg (Djihad / Kreuzzug) gegen das absolut Böse, den Satan, stehen. Nicht ausgemacht ist jedoch, inwieweit und wodurch die Ähnlichkeit in Sprache und Gestus auch eine in der Sache ist.

Die Sache ist die der auf den freien und gleichen Warentausch sich gründenden globalen Herrschaft des Kapitals. Das Voraussetzung und Folge der Freiheit und Gleichheit des Tauschs Ungleichheit und Zwang sind, begründet den spezifisch kapitalistischen Charakter bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, negiert sie aber nicht. Sie sind realer Schein. Kapital ist wesentlich der Prozess der Selbstverwertung eines Werts, dessen ebenso gültiger wie flüchtiger Ausdruck sich in dem Geld findet, von dem der Volksmund sagt, dass es die Welt regiert. Ist an dieser Gewissheit auch einiges unbegriffen, so trifft sie doch das Wesen kapitalistischer Vergesellschaftung deutlich besser als es den meisten ihrer Kritiker gelingt. Für letztere ist die Herrschaft des Kapitals vor allem (statt auch) eine der Klasse der (Groß-)Kapitalisten im Verbund mit der sonstigen politischen und gesellschaftlichen Elite. Die Gewissheit des Bürgers ist der unverständigen linken Kritik überlegen, weil in ihr die Marxsche Erkenntnis, dass in der auf dem Tausch sich gründenden Gesellschaft "die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen", wie fragmentiert auch immer, enthalten ist.

Geld als Inkarnation der Werts ist allgegenwärtig und allmächtig, seine Potenzialität ist unendlich. Vor dem Geld sind alle Menschen gleich. Seine Herrschaft ist geprägt vom stummen Zwang eines Verhältnisses, das "zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht". (Marx) Die unter diese Macht fallende Menschheit ist in sich vielschichtig differenziert, sortiert ist sie wesentlich in diejenigen, die zum Gelingen der Wertselbstverwertung beitragen und diejenigen, die dafür nicht gebraucht werden. Erstere partizipieren an der allgemeinen Reichtumsproduktion des Kapitalismus, letztere vegetieren als Überflüssige - so sie nicht als Angehörige und Bürger eines reichen Staates einen gewissen Schutz davor genießen - im Elend.

Dieses Elend ist umfassend. Es ist soziales, geistiges und ein selbst im Protest gegen dieses zum Ausdruck kommendes. Der miserable Protest der Elenden richtet sich nicht gegen die undurchschaute abstrakte Herrschaft des Kapitals, sondern gegen dessen fälschlich als Träger begriffene Repräsentanten. Meist jedoch identifiziert die konkretionswütige Rebellion gegen die abstrakte Herrschaft den Juden als ihren geheimen Träger. Ihn zu vernichten wird ihr zum zentralen Anliegen. In der antisemitischen Revolte gegen das Kapital steckt der Protest gegen die Gleichgültigkeit, die die abstrakte Herrschaft den ihn Unterworfenen zeigt. Ein Protest aber, der gegen die Indifferenz, die aus der Herrschaft des Allgemeinen resultiert, sich wendet und stattdessen Herrschaft anstrebt unter der Signatur eines je Besonderen, welches wahlweise gründet im Geschlecht, der Nation, der Ethnie, der Religion, der Abstammung, der Haut-, Augen- oder Haarfarbe etc. oder beliebiger Kombination daraus, richtet sich genau gegen die zivilisatorischen Momente, die in kapitalistischer Vergesellschaftung enthalten sind. Herrschaft soll statt der unsichtbaren Hand (A. Smith) des Marktes die starke der Despotie ausüben, ihr Zwang kein stummer mehr sein. Die Barbarei, die der kapitalistischen Zivilisation in gleich unaufhebbarer Weise zugehört wie das Elend dem Wohlstand, soll statt abgeschafft universalisiert werden.

Barbarei speist sich jedoch nicht nur aus dem vom globalen Kapitalismus erzeugten Elend, sondern auch aus der vom gleichen Kapitalismus bedrohten lokalen Herrschaft. So proklamiert das kommunistische Manifest: "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht..." Dies führe dazu, dass "auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation" gerissen würden. (Dass die zivilisatorische Potenz des Kapitals ebenso endlich wie die ihm innewohnende barbarische gewaltig ist, brachte 50 Jahre später Rosa Luxemburg zum Ausdruck, indem sie als die entscheidenden Alternative für die Zukunft der Menschheit "Sozialismus oder Barbarei" ausmachte.)

Ist das Insignium der Barbarei der Hass auf die Juden, deren Vernichtung ihr Ziel ist, so verwundert nicht, dass die Islamisten auf die Auslöschung Israels in ähnlicherweise fixiert sind wie es die Nazis auf die Endlösung waren. Wo die Herrschaft der Islamisten durch Armut, Dummheit und imperialistisches Kalkül ermöglicht wurde, bedeutet sie für die ihr Unterworfenen Terror und Despotie. Die gewiss nicht beneidenswerte Lage der Palästinenser unter israelischer Herrschaft ist noch immer besser als die von Hamas, Djihad et. al. angestrebte. "Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: Ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Der infolge der Shoah gegründete Staat Israel bildet das einzig diesem Imperativ Entsprechende. Israel ist, gerade weil der von Adorno aufgestellte Imperativ im Allgemeinen die schwache Wirksamkeit des kantischen teilt, unvermindert notwendig und unbedingt zu verteidigen. Wie die Verteidigung Israels aussieht, sollten die Nachfahren der deutschen Täter den Nachfahren der jüdischen Opfer überlassen. Es genügte völlig, würden sie sich darum sorgen, ob die Existenz Israels gesichert ist. Seltsam mutet es an, wenn im Interesse der Bekämpfung des global praktizierten islamistischen Terrors von seinem lokal ausgeübten abgesehen werden soll.

"Zudem ist ihnen [den Zionisten] bis heute noch nicht klar geworden, dass der Schutz durch imperialistische Interessen für ein Volk eine genau so sichere Stütze ist wie das Seil für den Gehenkten."

[Hannah Arendt, 1945]

Seit der Staatsgründung basiert die Existenz Israels auf seiner militärischer Überlegenheit und dem Bündnis mit den westlichen Industriestaaten. Dauerhaft gesichert werden kann sie nur durch eine umfassende Friedensregelung im Nahen Osten. Nach Lage der Dinge würde diese die Einrichtung eines selbstständigen palästinensischen Staates implizieren. Jenseits einer grundsätzlichen Kritik des Konzeptes "nationale Befreiung" wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die sowohl von so genannten gemäßigten als auch von radikalen Kräften vorgetragenen Vorstellungen eines palästinensischen Nationalstaates - entgegen der offiziellen Beschlusslage - die Auslöschung Israels implizieren.

1993 hatte das Zentralkomitee der PLO in einer Position der Schwäche - ihr internationales Prestige hatte während des Golfkrieges gelitten, weswegen sie zu dieser Zeit weder auf finanzielle Unterstützung aus Europa noch aus den Golfstaaten rechnen konnte - im Vorfeld der Unterzeichnung von Oslo I das Existenzrecht Israels anerkannt, im Gegenzug dazu anerkannte die israelische Regierung die PLO als "Vertretung des palästinensischen Volkes". Der Anerkennung voraus gingen heftige Auseinandersetzungen im Zentralkomitee der PLO, die PLFP beispielsweise vollzog diesen Schritt nie mit. Die "Quittung" für die Fatah als Trägerin des "Kompromisskurses" folgte auf dem Fuße: Nach der Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens gewann im November eine gemeinsame Liste aus Hamas, DFLP und PFLP die Studentenratswahlen an der Bir-Zeit-Universität, nachdem in den vorausgegangenen acht Jahren die Fatah die Mehrheit im Studentenrat inne hatte. Seitdem ist ein kontinuierlicher Islamisierungsprozess unter den Studenten zu verzeichnen.

Die 1972 gegründete Bir-Zeit-Universität, die sich ein liberales, weltoffenes, laizistisches und demokratisches Image gibt und als Kaderschmiede einer zukünftigen palästinensischen Staatselite gilt, nimmt eine zentrale Rolle im Diskurs um die Konstruktion einer nationalen palästinensischen Identität ein. 1977 wurde dort ein "Zentrum für die Erforschung und Dokumentation der palästinensischen Gesellschaft" mit dem Ziel "Volksbräuche und Gewohnheitsrecht der palästinensischen Gesellschaft" sowie die "palästinensische Identität" zu bewahren, ins Leben gerufen. Zu diesem Behufe steht Oral History hoch im Kurs: Das "The Race Against Time Project" führt Interviews mit 1948 vertriebenen / geflohenen Palästinensern durch; das "Archive of Destroyed Palestinian Villages" enthält eine Dokumentation von tatsächlich oder angeblich 1948 von Israelis zerstörten Dörfern. Ihrer Bestimmung gemäß geht diese nationale Historiographie von der Annahme einer alleinigen Schuld Israels aus. Aus dieser Perspektive interessiert weder die arabische Vernichtungsdrohung gegen Israel (die arabischen Länder haben den UNO-Teilungsplan nicht anerkannt) noch die Tatsache, dass Ägypten, Transjordanien, Syrien, Irak und Libanon 1948 einen Angriffskrieg gegen Israel führten, dass nicht nur das israelische Militär Dörfer zerstörte, sondern auch arabische Einheiten bei ihrem Vormarsch bzw. Rückzug Orte evakuieren ließen, und dass viele Palästinenser ihre Dörfer in der Hoffnung, bald in einen judenfreien Staat zurückkehren zu können, verließen. Dementsprechend wird auch nicht reflektiert, dass das jahrzehntelange elende Leben in Flüchtlingslagern, das für viele der Menschen damals begann, auch in einer bewussten Politik der arabischen Staaten und palästinensischer politischer Organisationen gründet. Mit diesem Projekt "Race to preserve the Palestinian Identity" definiert sich das palästinensische Kollektiv über erlittenes Unrecht und begründet einen Opfermythos. Wird die zentrale Bedeutung der Shoah an anderer Stelle geleugnet, um von der Notwendigkeit eines israelischen Staates absehen zu können, so soll mit der suggerierten Gleichsetzung die Qualität des palästinensischen Leids hervorgehoben werden. Beide Argumentationsfiguren der Relativierung sind aus der deutschen Debatte allzu bekannt.

Die Forderung nach Rückkehr der Flüchtlinge - deren Zahl erheblich angewachsen ist, da der Flüchtlingsstatus wie sonst nur bei den Schlesiern erblich ist -, wird als conditio sine qua non einer "Friedensregelung" formuliert. Mit Bezug darauf (und auf die Forderung, Jerusalem müsse unteilbare Hauptstadt eines palästinensischen Staates sein) schlug Arafat im Juli 2000 Baraks weit reichendes Angebot aus und ließ die Camp-David-Verhandlungen scheitern. In einem Aufruf palästinensischer Intellektueller vom November 2000 - 56 der 121 Unterzeichner gehören der Bir-Zeit-Universität an - fordern diese, Israel solle die Verantwortung für die Flucht von 1948 anerkennen, da dies die Voraussetzung für eine gerechte und dauerhafte Lösung des Flüchtlingsproblems sei. Wenngleich diese "gemäßigten Kräfte" offiziell nicht den Boden der Anerkennung des israelischen Existenzrechts verlassen, formulieren sie nichtsdestoweniger Bedingungen, die genau dieses unterlaufen.

Befreit von staatsmännischen Rücksichtnahmen redete Dr. Ahmed Abu Halabiya, Mitglied des von Arafats Autonomiebehörde ernannten "Fatwa Rates" und früherer Rektor der Islamischen Universität in Gaza, am 13. Oktober 2000 in einem vom Fernsehen der palästinensischen Autonomiebehörde übertragenen Freitagsgebet in der Sultan-Aal-Nahyan-Moschee Klartext: "Kein Jude schreckt vor irgendeinem unvorstellbaren Bösen zurück. (...) Die Juden sind Juden, egal, ob Likud oder Arbeitspartei (...) Es gibt bei ihnen keine Gemäßigten oder Anwälte des Friedens. Sie sind alle Lügner. (...) O Brüder im Gauben, die Kriminellen, die Terroristen sind die Juden, die unsere Kinder geschlachtet haben (...). Sie sind diejenigen, die geschlachtet und getötet werden müssen, wie Allah der Allmächtige sagt. (...) Selbst wenn eine Übereinkunft über Gaza unterzeichnet wird, sollten wir Haifa, Acre, Galiläa, Jaffa, die Negev-Wüste und den Rest unserer Städte und Dörfer nicht vergessen. Es ist nur eine Frage der Zeit. (...)Habt kein Mitleid mit den Juden, egal, wo ihr seid, in welchem Land auch immer. Bekämpft sie, wo immer ihr seid. Wo immer ihr sie trefft, tötet sie. (...) Wir werden kein einziges Samenkorn palästinensischen Bodens aufgeben von Haifa und Jaffa und Acre und Mulabbas und Salamah und Majdal und all dem Land, und Gaza und Westbank."

Im Osloer Abkommen hatte die PLO zugesagt, antisemitische Propaganda in den von ihnen verwalteten Gebieten zu unterbinden. Dass die oben zitierte Rede kein "bedauerlicher, aber nicht repräsentativer Einzelfall ist", zeigt ein Blick in ein aktuelles Schulbuch der palästinensischen Autonomiebehörde für die 6. Klasse: " Es gibt keine Alternative zur Zerstörung Israels. (...) Der jüdische Anspruch auf Palästina ist die größte Lüge, die die Menschheit kennt. (...) Vielleicht hat Allah die Juden uns ins Land gebracht, um sie auszulöschen, wie es bei ihrem Krieg gegen Rom geschah." In Atlanten existiert Israel auf Landkarten des Nahen Ostens nicht; sie zeigen einen palästinensischen Staat.

Bisher gerieten Positionen in den Blick, die von so genannten gemäßigten Kräften vertreten werden oder deren Verbreitung die Autonomiebehörde zu verantworten hat. Die Zusammenarbeit dieser "gemäßigten Kräfte" mit Djihad und Hamas, die nie auf etwas anderes als die Vernichtung Israels zielten, nimmt zu. So ließ die palästinensische Autonomiebehörde nach der israelischen militärischen Reaktion auf den Lynchmord von Ramallah Hamas-Aktivisten frei, die wegen Bombenanschlägen gegen Israelis einsaßen. Bereits Ende Oktober berichtete die Washington Post über ein "Arbeitsbündnis" zwischen Fatah, Hamas und dem Djihad; beide Gruppen hätten wieder Sitz und Stimme in einem der Exekutivausschüsse Arafats. Schon zuvor wurde ein Mitglied der Hamas, Hammad al-Falogi, Kommunikationsminister in der Regierung Arafats. Nach einer Umfrage der Bir-Zeit-Universität befürworten 93 % der palästinensischen Bevölkerung eine Regierung der "nationalen Einheit" einschließlich Hamas und Djihad; Arafat selbst hat diese Möglichkeit zeitweise ins Auge gefasst. Die Interpretation, die "zunehmende Radikalisierung" der Palästinenser gründe im militärischen Vorgehen Israels, verkennt Ursache und Wirkung. In einem Interview mit der FAZ weist Amos Oz darauf hin, dass abermals Gewalt gerade in dem Augenblick ausbreche, "in dem ein Kompromiss im Konflikt mit den Palästinensern in greifbare Nähe gerückt ist." Und er fährt fort: "Zum ersten Mal geschah das gleiche im Jahr 1995, nach der Ermordung von Rabin. Shimon Peres war Ministerpräsident. Er setzte das Osloer Abkommen um, indem er jede Woche eine Stadt im Westjordanland an die Palästinenser übergab. Dann explodierten die Bomben in Bussen und Autos. Hunderte von Juden starben innerhalb von nur zwei Wochen."

Im Zentrum der Islamisten steht der Wunsch nach der Vernichtung Israels. Wäre es anders, könnte man von Islamisten nicht sprechen. Dass die palästinensische Autonomiebehörde unter Arafat gegenwärtig nicht in der Lage ist, die Islamisten auszuschalten, ist das mindeste, was über das Verhältnis der PLO-Führung zu den Islamisten gesagt werden muss. Der, auch militärisch geführte und zu führende Kampf Israels gegen die Islamisten ist kein Staatsterror, sondern reine Notwendigkeit. In diesem Kampf werden weniger der Frieden oder Friedensprozess - die es der Natur der Sache nach mit Islamisten nicht geben kann - gefährdet, als vielmehr die dafür notwendigen Voraussetzungen erst geschaffen.

Quelle: Rosa Luxemburg Gesellschaft e.V., Editorial, Wintersemester 2001/02

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